Wer sich mit Mastodon beschäftigt, trifft häufig zuerst auf technische Erklärungen: Föderiertes Netzwerk, dezentrale Struktur, fehlender Algorithmus, ActivityPub. Das ist alles richtig und die Grundlage dafür, warum Mastodon anders funktionert. Trotzdem ist für eine erste Beschreibung spannender, was Mastodon seinen Nutzenden bietet:

Mehr Kontrolle über die eigenen Inhalte als auf jeder anderen Plattform.

Das ist eine Form der „digitalen“ Fürsorge für alle Nutzenden. Daran fehlt es auf anderen Plattformen. Darüber schreibert Robert W. Gehl in seinem gerade erschienen Buch:

„Move Slowly and Build Bridges: Mastodon, the Fediverse, and the Struggle for Democratic Social Media“

Das Buch ist im deutschen Buchhandel erhältlich – auch als E-Book. (Screenshot: geniallokal.de)

1. Mastodon: Mehr als nur Code – die menschliche Seite der Protokolle

Gehl betont, dass Mastodon und das Fediverse oft nur unter technischen Gesichtspunkten diskutiert werden: Föderation, Open-Source-Software, ActivityPub-Protokoll. Doch die wahre Innovation liegt in der Verschränkung von Technik und sozialer Praxis.

„Mastodon und der breitere Fediverse haben meine Annahmen darüber herausgefordert, was alternative Social Media sein könnten. Hier geht es nicht nur um technische Errungenschaften, sondern um die Menschen, die diese Protokolle gestalten – und die Kosten, die sie dafür zahlen.Robert W. Gehl

Die unsichtbare Last der Protokoll-Entwicklung

Gehl interviewte drei zentrale Entwickler:innen von ActivityPub: Evan Prodromou, Amy Guy und Christine Lemmer-Webber. Alle berichteten von traumatischen Erfahrungen während der Standardisierung durch das W3C (World Wide Web Consortium).

„Sie sprachen von PTSD, tiefer Depression und dem Gefühl, dass der Prozess sie emotional zerstört habe. Das sind Geschichten, die in technischen Dokumenten nicht auftauchen.“Robert W. Gehl

Lehre daraus: Technische Protokolle sind keine neutralen Werkzeuge – sie entstehen durch menschliche Arbeit, Konflikte und Leid. Wer über „Protokolle statt Plattformen“ spricht, sollte auch fragen: Wer trägt die Last? Wer profitiert? Wer brennt aus?

2. Föderation als diplomatische Praxis: Verträge statt Algorithmen

Gehl erinnert daran, dass Föderation und Protokoll nicht nur technische Begriffe sind, sondern historische Wurzeln haben: Der Begriff Protokoll stammt ursprünglich aus der Diplomatie und bezeichnet Regeln für Verhandlungen zwischen Staaten, während Föderation wörtlich „Vertrag zwischen Gruppen“ (lat. foedus) bedeutet. Im Fediverse werden diese Konzepte lebendig, denn das Betreiben eines Servers ähnelt diplomatischer Arbeit. Jede Instanz entscheidet selbstständig, mit welchen anderen Instanzen sie sich verbindet – ähnlich wie Staaten Bündnisse eingehen oder brechen. Codes of Conduct, also Verhaltensregeln, fungieren dabei als die „Verträge“ der Community. Sie legen fest, was auf einer Instanz akzeptabel ist und wer gegebenenfalls ausgeschlossen wird.

„Föderation ist eine diplomatische Praxis genauso wie eine technische. Es geht um Ethik und Politik, nicht nur um Code.“Robert W. Gehl

3. Die Ethik der Fürsorge: Warum Mastodon „sozial“ bleibt

Gehl beschreibt den Fediverse als ein Ökosystem der Fürsorge, das auf dem Konzept der Ethics of Care basiert. Diese Ethik zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: Admins kümmern sich um die Infrastruktur, indem sie Server warten, Bandbreite finanzieren und Spam-Wellen abwehren, während Nutzer:innen durch kleine Handlungen wie Content-Warnings oder Alt-Texte für Bilder dafür sorgen, dass die Plattform zugänglich und inklusiv bleibt. Darüber hinaus entstehen Mutual-Aid-Netzwerke, in denen sich Mitglieder gegenseitig unterstützen – sei es durch finanzielle Hilfe, technische Unterstützung oder emotionale Solidarität.

„Care [Fürsorge] ist eine soziotechnische Praxis. Sie findet auf allen Ebenen statt: im Code, in den Instanzen, in den Beziehungen zwischen Menschen.“Robert W. Gehl

Fürsorge bedeutet im Fediverse aber auch, Debatten über Moderation zu führen und nachhaltige Finanzierungsmodelle für Künstler:innen und kleine Instanzen zu entwickeln. Doch diese Fürsorge hat auch ihre Schattenseiten: Burnout ist ein weitverbreitetes Problem, da viele Admins und Moderator:innen die Arbeit ehrenamtlich leisten und irgendwann erschöpft aufgeben. Zudem können Konflikte über Blocklisten oder Moderationsrichtlinien die Community spalten, wenn unterschiedliche Vorstellungen von Sicherheit und Freiheit aufeinandertreffen.


Das Buch „Move Slowly and Build Bridges: Mastodon, the Fediverse, and the Struggle for Democratic Social Media“, Robert W. Gehl, Oxford University Press, August 2025

Website zum Buch: https://www.moveslowlybuildbridges.com/

Quelle zum zitierten Vortrag: FediForum Special Event



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